Forscher verfassen Manifest für Digitalen Humanismus
Je mehr die Grenzen zwischen Mensch und
Maschine verschwimmen, desto lauter wird der Ruf nach einer digitalen
Aufklärung. Wien will dabei Vorreiter sein
Karin Krichmayr 27. Juli 2019, 08:00
Der Mensch, das digitale Wesen: Mit dem
Fortschreiten der Informationsrevolution bekommt auch der
Humanismusbegriff eine neue Bedeutung.
Foto: iStock/Getty
Das digitale Paradies – oder die
Algorithmen-Apokalypse: Das sind derzeit die diametral entgegengesetzten
Vorstellungen, die wir mit einer allumfassenden Digitalisierung
verbinden. Erstere, die euphorische Vision, wird vorwiegend von
US-Tech-Firmen des Silicon Valley verbreitet und verspricht eine
Zukunft, in der wir uns nur noch zurücklehnen und intelligente Systeme
für uns entscheiden lassen müssen. Auf der anderen Seite beschwört die
apokalyptische Vision – ein Lieblingsthema Hollywoods – eine digitale
Diktatur herauf, in der Menschen konzern- und computergesteuert jegliche
Privatsphäre und Selbstbestimmung verlieren und Maschinen die Allmacht
übernehmen.
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Beide Sichtweisen verbinde die Passivität des
Menschen, der unweigerlich den künftigen Verheißungen bzw. Bedrohungen
ausgeliefert sei, sagt die Kulturwissenschafterin Natalie Weidenfeld.
Sie spricht von "regressiven Fantasien", die mit dem
Digitalisierungsdiskurs verbunden seien: Der Mensch werde wieder zum
Kind und projiziere in einem Rückfall in "vorwissenschaftliches,
magisches Denken" unrealistische Hoffnungen und Ängste auf Maschinen.
Weidenfeld, die gemeinsam mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin das
Buch "Digitaler Humanismus" (Piper 2018) geschrieben hat, plädiert
dafür, dass wir uns erwachsen verhalten und die Digitalisierung aktiv
nutzen, um die Bedingungen für ein menschenwürdiges, selbstbestimmtes
Leben zu stärken.
Wiener Manifest
Nicht nur in den Kultur- und
Geisteswissenschaften, auch in den Computerwissenschaften werden immer
mehr Stimmen laut, die sich für einen "Digitalen Humanismus"
starkmachen, der zum Ziel hat, den Menschen in den Mittelpunkt aller
technologischen Prozesse zu stellen. "Die Informatik ist in der heutigen
Gesellschaft eine Basiswissenschaft", sagt Hannes Werthner, Dekan der
Fakultät für Informatik der TU Wien. "Ohne unsere Produkte und
Ergebnisse funktioniert gar nichts mehr. Die Informatik sollte also
bewusster reflektieren, welche Rolle sie in der Welt spielt, im
Positiven wie im Negativen."
Werthner hat kürzlich einen internationalen
Workshop zu Digitalem Humanismus initiiert, gemeinsam mit dem Wiener
Wissenschafts- und Technologiefonds (WWTF) und der MA 23 der Stadt Wien.
Forscher verschiedenster Disziplinen, angereist aus vielen Teilen der
Welt, verabschiedeten dabei auch das "Vienna Manifesto on Digital
Humanism", das in elf Punkten festschreibt, wie Informationstechnologie
menschlichen Werten und Bedürfnissen gerecht werden kann.
Darunter befindet sich etwa die Forderung,
dass soziale Medien bessere Hüter der freien Meinungsäußerung sein
sollten und Kinder so früh wie möglich in Computerwissenschaften
geschult werden müssen. Oder dass effektive Regulierungen
Prognosesicherheit, Fairness, Haftung und Transparenz von Algorithmen
garantieren müssen. Oder dass automatisierte Entscheidungssysteme
menschliche Entscheidungen nicht komplett ersetzen dürfen. "Wir müssen
uns die Frage stellen, wie wir uns in einer Koevolution von
Informationstechnologie und Mensch am besten verhalten", sagt Werthner.
Er und seine Mitstreiter beziehen sich dabei
unter anderem auf Tim Berners-Lee, den Begründer des World Wide Web. Der
trat mit seiner Aussage "The system is failing" ("Das System scheitert")
2017 im "Guardian" eine Welle los, die weltweit Anklang fand. Etliche
Experten, darunter Computerpioniere und Forscher, die selbst
federführend an der digitalen Entwicklung beteiligt sind, warnen längst
vor Datenmissbrauch, dem Anstieg extremistischer Stimmen und
Desinformation im Internet, autonomen Waffensystemen, Datenmonopolen –
und deren Auswirkungen auf demokratische Gesellschaften und unser
menschliches Selbstverständnis. Der Ruf nach einer "digitalen
Aufklärung" wird immer lauter.
Digitale Ideale
"So wie sich historisch nach dem Absolutismus
durch die Aufklärung die Menschen als Bürger emanzipiert haben, so
müssen heute Lern- und Denkprozesse in Gang gesetzt werden, damit sich
die Menschen auch selbstbestimmt und eigenverantwortlich im Web bewegen
können", sagte etwa Christoph Meinel, Mathematiker, Informatiker und
Dekan der Digital-Engineering-Fakultät an der Universität Potsdam,
kürzlich bei einem Vortrag an der Akademie der Wissenschaften in Wien.
"Wir beziehen uns bewusst auf den Begriff der
Aufklärung und die Ideale des Humanismus. Wir verfolgen einen
wissenschaftlichen Ansatz", sagt Hannes Werthner. "Digitaler Humanismus
bedeutet, das komplexe Zusammenspiel zwischen Mensch und Technik nicht
nur zu beschreiben und zu analysieren, sondern auch zu beeinflussen –
mit dem Ziel, eine demokratische, inklusive Gesellschaft zu fördern."
Als konkretes Beispiel nennt Werthner das
Konzept der "Explainable Artificial Intelligence", einer erklärbaren
künstlichen Intelligenz (KI). "Es muss klar werden, wie Entscheidungen
von KI-Systemen zustande kommen, wie sie beeinflussbar werden. Das ist
eine offene Innovations- und Forschungsfrage, die eine Verbindung von
statistischen mit logischen Modellen erfordert."
Genau in derartigen Fragen sei Wien mit seiner
Tradition auf dem Gebiet der Logik hervorragend aufgestellt. Insofern
verorten sich die Initiatoren des Manifests auch in einer Linie mit dem
Wiener Kreis rund um Moritz Schlick, der in den 1920er- und 30er-Jahren
Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaften mit Mathematik und Logik zu
einer neuen, wissenschaftlich-positivistischen Weltauffassung verband.
Auch die Stadt Wien ist auf den Zug
aufgesprungen und startete vor kurzem eine Forschungsinitiative zu
Digitalem Humanismus. 320.000 Euro sollen an Projekte gehen, in denen
"technologische Grundlagen und Anwendungen unter das Primat
demokratiepolitischer Werte der Aufklärung und des Humanismus" gestellt
werden, so die Ausschreibung, die noch bis 20. August läuft.
Mittelfristig soll sich Wien als "Zentrum des Digitalen Humanismus"
etablieren, so Wissenschaftsstadträtin Verena Kaup-Hasler.
Freiheit, zu reflektieren
Langfristig sieht Hannes Werthner eine
entscheidende Voraussetzung für einen Humanismus 2.0 nicht nur in
größeren Forschungsprogrammen, sondern auch in einer starken Rolle der
Universitäten. "Wir sind die einzige Institution, die die Freiheit hat,
zu reflektieren und neues Wissen so wertfrei wie möglich zu generieren",
sagt der Informatiker. "Wir müssen uns fragen, welche Rolle die Unis in
zehn, 15 Jahren haben sollen, wenn Forschung auf den Gebieten Informatik
und Maschinenlernen zunehmend von privaten Konzernen getragen wird."
Um einer Welt der autonomen Systeme gerecht zu
werden, fordert Werthner ein neues Selbstverständnis der Universitäten,
das ein "Aufbrechen der Silos der Disziplinen" beinhaltet. Ihm schwebt
ein "legobaukastenartiges Curriculum" vor, in dem Fakultäten und Fächer
miteinander verschmelzen und ein Technikstudium etwa mit Philosophie
kombiniert werden kann.
Fest stehe: Es werde einen robusten
humanistischen Unterbau für die komplexen Digitalisierungsstrukturen der
Zukunft brauchen, entwickelt von einer breiten wissenschaftlichen
Community. "Wir haben die Informationsrevolution ausgelöst", sagt
Werthner, "ihr Ergebnis hängt nun von uns ab." (Karin Krichmayr,
27.7.2019)
Links
Vienna Manifesto on Digital Humanism
Forschungsprogramm "Digitaler Humanismus"
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https://www.derstandard.at/story/2000106599599/forscher-verfassen-manifest-fuer-digitalen-humanismus